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DAVID WNENDT : Die Tiefe der Freundschaft
Felix Lobrechts Roman „Sonne und Beton“ ist kein Geheimtipp mehr. Vielfach besprochen, gelobt, geliebt, als Graphic Novel und als Film adaptiert, gehört der Roman schon länger zum deutschen Pop-Kulturgut.
Als die Geschichte über die vier Jungs aus Gropiusstadt aber noch nicht so bekannt war, hat Regisseur David Wnendt den Roman im Buchladen aus dem Regal gezogen und gleich erkannt, was diese Erzählung so wertvoll macht: Die authentische Darstellung von 14-jährigen Jugendlichen, die nichts Besonderes sein müssen, um gerade dies zu sein. David Wnendt hat mit seinen vier großartigen Hauptdarstellern aus dem Buch einen dynamischen, aufregenden und aufrichtigen Film gemacht, der aus dem Herzen von Neukölln und damit dem Herzen der Jugend erzählt. Genau hier leben auch Lelan und Shahed aus der Keplerschule in Neukölln. Natürlich kannten sie den Film bereits, als sie zwischen den Büchern, die wir ihnen mitgebracht hatten, Oljanna Haus' Graphic Novel entdeckten. David Wnendt besuchte die Schülerinnen in ihrer Schule und sprach mit ihnen über seine Jugend im Ausland, seine Arbeit als Regisseur, seine Liebe zu Büchern und seine Gedanken über einer Fortsetzung von „Sonne und Beton“.
Wie kamen Sie dazu, ein Regisseur zu sein?
Nach der Schule wusste ich erstmal nicht, was ich machen soll. Ich habe mich für eine Banklehre beworben und hatte auch einen Ausbildungsplatz. Dann kam die Bundeswehr dazwischen. Als ich mit dem Wehrdienst durch war, stand ich wieder vor der Frage und musste daran denken, wie viel Spaß ich hatte, als ich in der neunten Klasse Theater gespielt habe. Ich fand toll, dass man da so viele verschiedene Aufgaben hat: Spielen, inszenieren, organisieren und die Herausforderung, Probleme künstlerisch zu lösen. Es hat mich erfüllt, so vielseitig gefordert zu werden. Also habe ich mich damit beschäftigen, wie man Regisseur werden kann. Es war ein langer Weg, mit vielen Praktika und Umwegen über andere Studiengänge, bis ich dann Regie an der Filmhochschule studiert habe.
Wie kamen Sie dazu, die Regie von „Sonne und Beton“ zu führen?
Ich habe das Buch in einer Buchhandlung gesehen. Es sah interessant aus und auch der Klappentext war spannend. Also habe ich das Buch gekauft und gelesen. Ich fand es wirklich sehr, sehr gut, weil es so realistisch beschreibt, wie man sich als 14-jähriger Junge fühlt: wie groß die Probleme in dem Alter sind und wie alleine man sich mit denen fühlt, weil die Eltern und Lehrer einem nicht helfen können. Mir hat gefallen, dass die Figuren nicht überhöht wurden. Sie sind nicht die krassen Gangster oder die krassesten Nerds, sondern realistische Figuren, die mit viel Humor beschrieben werden. Obwohl ich selber nicht aus Gropiusstadt komme, wollte ich das Buch verfilmen. Mit meiner Produktionsfirma haben wir uns mit Felix Lobrecht getroffen. Wenn man ein Buch verfilmen will, muss man die Rechte „optionieren“ – also dafür bezahlen, dass man als Einziger aus dem Buch einen Film machen darf. Felix wollte am Drehbuch mitschreiben. Und so ging es los.
„Ich fand das Buch wirklich sehr, sehr gut, weil es so realistisch beschreibt, wie man sich als 14-jähriger Junge fühlt.“
War Ihnen Neukölln bekannt, als Sie angefangen haben, sich mit der Geschichte zu beschäftigen? Speziell die Verhältnisse und das Leben in der Gropiusstadt?
Ich wohne seit 1997 in Berlin und habe in verschiedenen Bezirken gelebt, zum Beispiel auch in der Weserstraße in Neukölln. Ich kenne Neukölln also vom alltäglichen Leben und aus Berichterstattung. Ich bin aber nicht in Berlin zur Schule gegangen. Und ich hatte damals auch noch keine Kinder in der Schule. Aber als Regisseur muss man nicht unbedingt alles immer selbst erlebt haben oder schon kennen. Man kann sich auch durch Recherche mit Themen oder Geschichten beschäftigen und da hineinwachsen.
Leben Sie hier in Neukölln?
Wir sind jetzt nach Kreuzberg umgezogen. Aber das liegt daran, dass wir eine größere Wohnung brauchten. Es ist in Berlin nicht so einfach, eine Wohnung zu finden, da konnten wir uns nicht aussuchen, in welchem Bezirk wir wohnen wollten.
Das Thema unser Projekt ist Ausgrenzung und Zusammenhalt. Welche Rolle spielt das für Sie in der Geschichte?
Es geht um vier Jungs, die am Anfang Kumpels sind, die aber nicht besonders eng miteinander sind. Sie erleben dieses Abenteuer zusammen und es geht ganz viel schief. Am Ende haben sie alles, was sie irgendwie mal gewonnen haben, wieder verloren. Aber sie sind wirklich Freunde geworden und haben sich gegenseitig gefunden. Keiner der Erwachsenen konnte ihnen helfen und der ältere Bruder hat sie sogar verraten. Aber die vier sind zusammengewachsen. Das ist, was in dem Film steckt, worum es geht: die neue Tiefe dieser Freundschaft.
Können Sie sich vorstellen, dass es eine Fortsetzung von „Sonne und Beton“ geben wird?
Ja und nein. Es hat so viel gepasst, als wir den Film gemacht haben. Es war zum Beispiel hilfreich, dass noch keiner das Buch kannte. Man konnte drehen, ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen. Es hat sich so viel geändert, dass es nicht so leicht wäre, heute eine Fortsetzung zu drehen. Auch wenn noch viele Geschichten drin stecken – über die Stadt, darüber, was Schüler oder Schülerinnen in Berlin erleben usw. Allerdings waren die vier Jungs, die die Hauptrollen gespielt haben, damals, als wir den Film gedreht haben, 14 und 15 Jahre alt. Bis der Film dann fertig war, hat es zwei Jahre gedauert. Heute sind die vier schon 18 und 19. Sie haben sich komplett verändert. Man kann also keine ähnliche Geschichte mehr erzählen. Außerdem ist der erste Teil sehr Jungslastig. In dem Alter sind die Mädchen noch weit entfernt, die Jungs träumen von Mädchen, aber haben noch nicht so richtig eine Freundin. Deswegen ist es sehr auf die Jungs fokussiert. In einem zweiten Teil könnte man eine Geschichte erzählen, die Mädchen in dem Alter in den Mittelpunkt stellen. Ich hätte da schon Interesse dran. Aber ob das klappen würde, mit Felix und all den anderen Menschen, die bei dem Film mitgemacht haben, das wäre die Frage.
„Als Regisseur muss man nicht unbedingt alles immer selbst erlebt haben. Man kann sich auch durch Recherche mit Themen oder Geschichten beschäftigen und hineinwachsen.“
In dem Comic „Sonne und Beton“ ist es so gezeichnet, dass man erkennt, dass es die Clay-Schule ist. Aber im Film ist es eine andere Schule. Was ist das für eine Schule?
Wir haben den Film in zwei verschiedenen Schulen gedreht. In einer Schule in der Gropiusstadt und an der Kleist Schule, an der Felix auch lange war. Die ist eigentlich gar nicht in Gropiusstadt, sondern in Rudow. Wir brauchten für den Film ja verschiedene Räume. Eine Aula, ein Klassenzimmer, Flure, ein Keller usw. Diese Orte haben wir nicht alle an einer Schule gefunden. Die Klassenräume in der Kleist Schule sind zum Beispiel in Containern, ganz improvisiert gebaut. Das war zum Drehen nicht so gut. Deswegen haben wir die Schule im Film aus verschiedenen Schulen zusammengebaut.
Warum ist das Ende vom Buch nicht so wie das Ende vom Film?
Film funktioniert anders als ein Roman. Das heißt, manche Sachen muss man auch ändern. Das Grundlegende bleibt in beiden Fällen gleich: Dino ist im Krankenhaus und die anderen besuchen ihn. Aber für mein Gefühl wurde man im Buch ein bisschen rausgerissen. Man fühlt das Ende nicht richtig. Mir war es wichtig, dass der Film ein deutliches Ende hat und das stärker betont wird, dass die vier Jungs Freunde geworden sind. Im Roman gehen die drei gar nicht zu Dino ins Zimmer, sondern das Buch endet auf dem Krankenhausflur, als sie noch auf dem Weg zu ihm sind. Wenn man sie aber noch einmal zusammen sieht, diesen ehrlichen Moment zwischen Freunden miterlebt, das schließt die Geschichte noch besser ab.
„Das ist, was in dem Film steckt, worum es geht: die neue Tiefe dieser Freundschaft.“
In der Graphic Novel ist es ja noch mal anders.
Die Graphic Novel ist näher am Roman. Aber das ist ja immer eine Interpretationssache.
Hat die Graphic Novel für den Film irgendeine Rolle gespielt?
Die Graphic Novel kam raus, als wir schon dabei waren, den Film umzusetzen. Es war trotzdem interessant, das noch mal so zu sehen. Spannend war, dass manche Figuren unseren Darstellern sehr ähnlich sahen. Lucas sah so aus wie die Figur in der Graphic Novel. Dafür sieht Julius ganz anders aus. Es ist auch hier eine eigene Interpretation der Geschichte. Auch von der Mode her. Wir haben uns noch stärker an der Mode aus dem Jahr 2003 orientiert. In der Graphic Novel sind alle ziemlich stylisch gekleidet. Wir wollten, dass die Schüler normaler aussehen und so unterschiedlich, wie es in der Realität ist. Da ist ja auch nicht jeder Schüler total schick in Markenklamotten unterwegs.
In welchem Verhältnissen sind Sie aufgewachsen?
Relativ gut behütet. Meine Eltern haben beide studiert, mein Vater war Diplomat. Das heißt, wir sind oft umgezogen.
Wurden Sie schon mal ausgegrenzt?
Weil wir so oft umgezogen sind, war ich auf elf verschiedenen Schulen. Ich war also immer der Neue. Und da wir oft im Ausland gelebt haben, hatte ich es als „Ausländer“ auch manchmal nicht leicht.
Haben Sie in den unterschiedlichen Länder unterschiedliche Arten von Ausgrenzung erlebt?
In Amerika zum Beispiel habe ich viel gelernt über das Land, darüber, wie die Schule dort funktioniert, wie die Leute sind, wie die Kultur ist, usw. Aber es ist trotzdem nicht leicht, richtig dazuzugehören. Da steht viel im Weg. Auch ganz praktisch. In Amerika kann man zum Beispiel nichts zu Fuß oder mit dem Fahrrad machen. Wenn man noch keinen Führerschein hat, muss man immer gefahren werden. Und weil alles so groß ist, fährt man eine Stunde, wenn man einen Freund besuchen will. Für mich war es ganz schön schwierig, das alles erst mal zu verstehen und zu checken.
Wie viele Sprachen können Sie sprechen?
Ich war eigentlich immer auf einer deutschen oder einer englischen Schule, daher kann ich ziemlich gut Englisch sprechen. Mein Französisch ist holprig, das habe ich in der Schule gelernt, so wie die Meisten. Ich habe nicht in jedem Land, in dem wir gelebt haben, die Landessprache gelernt. In Pakistan zum Beispiel war ich auf einer englischen Schule, Urdu spreche ich nicht.
In welchem Land haben Sie denn am liebsten gelebt, neben Deutschland? Sie sind ja wieder hier. Also gefällt es Ihnen wahrscheinlich in Deutschland, oder?
Schon. Ich bin Deutscher. Meine Familie kommt hierher. Ich habe auch in meiner Kindheit immer wieder in Deutschland gelebt. Aber sonst hat mir die Zeit in Florida gefallen. Wir haben in der Nähe vom Meer gewohnt, es ist dort immer warm und so weiter. Das fand ich natürlich toll. Aber ich habe auch sehr gern in Belgien gewohnt. Das Land ist nicht so spektakulär, aber das war eine wichtige Zeit für mich in der zehnten, elften Klasse. Da habe ich die tieferen Freundschaften gehabt. Zu meinen Freunden aus Florida hatte ich schnell keinen Kontakt mehr, nachdem wir weggezogen sind. Wir waren noch zu jung, um wirklich Kontakt zu halten. Das war in Brüssel dann anders.
Ich finde krass, dass Sie schon mal in Pakistan waren.
Wenn man Diplomat ist, dann vertritt man Deutschland in der ganzen Welt. Das heißt, man kann überall hin versetzt werden. Man ist meistens für zwei oder drei Jahre in einem Land, bevor man ins nächste Land zieht. Zwischendrin kommt man immer wieder nach Deutschland zurück, auch wieder für ungefähr drei Jahre. Um Diplomatin zu werden, kann man sich nach dem Abitur oder einem Studium beim Auswärtigen Amt bewerben. Das Auswärtige Amt ist sogar in Berlin.
Was machen Sie denn zur Entspannung? Gucken Sie dann auch Filme?
Ich habe drei Kinder. Das heißt, im Moment ist mein Leben eher stressig. Also: Entspannung? (Alle lachen) Klar, ich gucke Filme und auch viel Serien. Und ich gucke auch YouTube oder TikTok.
Also das kann noch entspannend sein, auch wenn Filme zum Berufsalltag dazugehören?
Ja, auf jeden Fall, klar.
Gucken Sie auch Ihre eigenen Filme?
Nein. Nein, das würde ich auf keinen Fall machen. Ich gucke die Filme immer noch mal, wenn sie schon fertig sind, bei sogenannten Testscreenings. Das heißt, man lädt 30 bis 40 Leute ein, um den Film mit Publikum zu testen. Da merkt man dann noch mal, wo es eine Länge gibt und man noch was kürzen muss, usw. Und wenn der Film dann wirklich ganz fertig ist, sieht man ihn noch ein paar mal zur Kontrolle, ob jetzt auch wirklich alles stimmt. Danach gucke ich ihn eigentlich nicht noch mal an. Auch bei der Premiere gehe ich eigentlich immer raus, während der Film läuft. Das ist dann einfach purer Stress. Man sitzt da und denkt, warum geht der jetzt gerade raus oder warum hustet da hinten jemand. Manchmal habe ich nach Jahren noch mal einen Ausschnitt aus einem meiner Filme gesehen. Dann denke ich: Oh wow, das wusste ich gar nicht mehr! Aber wenn man einen Film über Monate so oft zur Kontrolle gesehen hat, dann ist der Film schon ganz abstrakt. Man kann ihn gar nicht mehr neutral sehen. Ich lasse das dann lieber liegen und will ihn später auch nicht mehr gucken. Dann stellt man nur die alten Entscheidungen infrage und würde am liebsten noch mal was ändern. Also warum sich das antun?
„Manche lieben es, ihren Film mit Publikum zu gucken. Ich sterbe dann nur 1000 Tode.“
Man entdeckt dann Fehler, nicht wahr?
Ganz genau. Aber jeder Regisseur macht das anders. Manche lieben das, ihren Film noch mal mit Publikum zu gucken. Aber ich sterbe dann nur 1000 Tode. (Alle lachen) Jeder hat seinen eigenen Weg, damit umzugehen.
Jeder hat seine Meinung und Art und Weise.
Ja, genau.
Spielt das Medium Buch für Sie eine Rolle in Ihrer Arbeit?
Auf jeden Fall! Ich habe ja schon mehrere Romanverfilmungen gemacht. Ich bin ja eigentlich kein Autor, sondern Regisseur, schreibe aber alleine oder mit anderen zusammen die Drehbücher für meine Filme. Romane sind immer eine gute Grundlage für einen Film. Man hat gutes Material, mit dem man sich auseinandersetzen kann. Ich starte nicht bei null, sondern kann etwas umformen und neu erfinden.
Ist der Film „Die Kriegerin“ auch so entstanden?
Nein, das war anders. Da habe ich recherchiert und Frauen aus der rechtsextremen Szene getroffen und mit ihnen Interviews zu ihren Lebensgeschichten gemacht? Das war das Grundmaterial für den Film. Das heißt, ich habe nicht eine einzelne Biografie verfilmt, sondern Geschichten aus dem Leben verschiedener Frauen zu einer neuen Erzählung zusammengefügt.
Und was lesen Sie zurzeit, so einfach für sich?
(Seufzt) Seitdem ich nicht mehr so viel U-Bahn fahre, weil ich jetzt in der Nähe von meinem Büro wohne, lese ich tatsächlich wenig. Aber ich fange jetzt wieder an, bewusst zu lesen, um eben nicht nur TikTok zu gucken. Gerade lese ich ein Science-Fiction-Roman, der heißt „Metro 2033“. Die Geschichte spielt in der Moskauer U-Bahn nach der Apokalypse. Das ist sehr gut geschrieben und es liest sich sehr spannend.
Sie haben drei Kinder. Lesen die?
Ich versuche viel vorzulesen, damit sie sich an Bücher gewöhnen.